Der Anfang 2020 gegründete Caracol Verlag der Autorinnen & Autoren soll Schreibenden in der Schweiz und darüber hinaus eine Heimat bieten.

Caracol ist spanisch und bedeutet Häuschenschnecke. Caracol nannten die Spanier ein Observatorium in der Maya-Stadt Chichén Itzá (Yucatán/Mexiko), wegen der gewundenen Treppe, die im Innern in die Tiefe führt. Ausblick und Weg nach innen: Für beides ist der Verlag offen.

Caracol ist ein «Haus» für Schreibende wie auch für ihre Leser. Wer schreibt / wer liest, zieht sich ins Schneckenhaus zurück, steigt hinab ins Innere, die Psyche, oder hinauf zum Ausblick über Landschaft und Gesellschaft, Zeit und Welt.

Wir verlegen Prosa und Lyrik. Der Schwerpunkt des Verlagsprogramms liegt auf literarischer Qualität und gesellschaftlich relevanten Themen.

Serafin hatte sich gut eingepackt, damit ihm das garstige Wetter nichts anhaben konnte. Schon lange hatte er den Weg verlassen. Er wollte so tief wie möglich ins Herz des Waldes vordringen. Während er ging, lauschte er der Geräuschkulisse, die ihn umgab und nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass kein einziger Laut menschengemacht war. Dieses bunte Treiben ohne Zutun seiner eigenen Spezies hatte etwas Tröstliches. Hier mitten im Wald spielten die Eitelkeiten der Stadt keine Rolle. Sie hatten schlicht keine Gültigkeit. Liefe Serafin nackt herum, nichts und niemanden würde es kümmern. In diesem Refugium musste er keiner Seele etwas beweisen. Er war sich selbst überlassen. Was ihn andernorts ängstigte, fühlte sich hier gut an. Er konnte befreit aufatmen.

Herbstprogramm 2023

Herbstprogramm 2023

Raffael Rihs

Die Flügel der Anderen

In seinem ersten Roman schildert Raffael Rihs berührend das Leben und die Entwicklung des jungen Antihelden Serafin Meier. Der verschlossene Einzelgänger weiss nicht recht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Seine Ausbildung an der Journalistenschule – und parallel dazu bei einer Lokalzeitung – begeistert ihn nicht. Überraschend findet er einen Freund und verliebt sich in eine Buchhändlerin, während er gleichzeitig als Journalist in Ausbildung knapp an einem Skandal vorbeischrammt.
Seine neuen Freundschaften locken Serafin aus der Reserve. Im Beruf wie im Privatleben wird er mit den Problemen der digitalisierten Gesellschaft konfrontiert. – Zuflucht bietet ihm der Wald.

Herbstprogramm 2023

Herbstprogramm 2023

Erica Engeler

Wortein wortaus

Wortein wortaus – der Buchtitel ist mehrdeutig: Er weist darauf hin, dass die Autorin tagein, tagaus mit dem Wort beschäftigt ist, tönt aber auch an, dass das Wort sich verweigern kann. Der Band enthält vier Kapitel, wovon das erste, Flüchtiges Traumgut, zweisprachig ist, deutsch/spanisch. Alle Kapitel zeugen von der Naturverbundenheit der Autorin ebenso wie von ihrer Leidenschaft für Sprache, Sprachen, das Wort. Zum speziellen, philosopischen Gegenüber wird Erica Engeler der See, dessen verschiedende Stimmungen sie im Kapitel Wellenpartitur in einer Reihe von Gedichten spiegelt.

Dieser Singsang, der sich
aus allem erhebt,
der steigt und fällt und
unermüdlich
neu beginnt.

*

Esta suave cantiga
que se desprende
de todo y no se cansa
de empezar y volver
a empezar.

Wetterleuchten

Am schwarzen Nachthimmel
immer wieder das entfernte
Leuchten des zuckenden gelben
Lichts und dichte Vorhänge
schweren Regens undurchdringliche
Wände aus Wasser die strömen
und strömen unsichtbar rauschen
du bist noch immer nicht auf den
Grund deiner Seele gelangt
undurchschaubar fließendes
Selbst das dir zuraunt die Nacht
der Regen die Wasser sind nicht
von Dauer sie vergehen wir sind
noch lange nicht auf den Grund
unserer Geschichte gekommen

Herbstprogramm 2023

Herbstprogramm 2023

Jochen Kelter

Verwehtes Jahrhundert

Jochen Kelters neuer Lyrikband ist ein Rückblick, von 1945 bis ins Heute, eine Bestandesaufnahme politischer und menschlicher Misere im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Sammlung umfasst 12 Zyklen mit je sieben Gedichten. Sie ist geprägt von einem Grundton der Trauer: grimmige Trauer im Politischen, stille Trauer im Privaten. Zu den versöhnlicheren Texten gehören Naturbeobachtungen und Begegnungen mit «kleinen Leuten», die Geschichte spiegeln.
Aus der Erinnerung evoziert der Autor starke Bilder, die nach der Lektüre weiterwirken.

Herbstprogramm 2023

Herbstprogramm 2023

Sabine Abt, Kurt Aebli, Gabrielle Alioth, Irène Bourquin, Markus Bundi, Ruth Erat, Thomas Heckendorn, Ruth Loosli, Matthias Müller, Oskar Pfenninger, Jolanda Piniel

Tintenblau wogende Stunden

Dieser Sammelband bringt surreale Geschichten von elf Autorinnen und Autoren, die alle schon zuvor im Caracol Verlag publiziert haben. Sämtliche Texte in diesem Band sind bisher unveröffentlicht. Die Vorgabe an die zur Teilnahme eingeladenen AutorInnen lautete: Geschichten mit irgendwie surrealem Touch. Die Schreibenden hatten also viel Freiheit und konnten ihre Phantasie beliebig spielen lassen. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Texten, die inhaltlich wie stilistisch auf ganz verschiedene, je eigene Weise faszinieren: ein buntes Feuerwerk des Surrealen.
«Tintenblau wogende Stunden» bietet eine Fülle von Geschichten, führt in gedankliche Zwischenwelten und regt an zum Nachdenken über die fliessenden Ränder der Realität.

Das dritte Bein

Die große Knolle mit ihren zwei Armen und drei Beinen erschien ihm fast menschlich. Kleiner Kopf, Stummelarme, lange, leicht gekrümmte Beine. Eher Ginseng als Ingwer. Er brachte es nicht übers Herz, die Ingwer-Person mit dem Gemüsemesser anzugehen, sie scheibchenweise in die Teekanne zu schnetzeln, um wie gewohnt seinen Mandarin-Schwarztee zu würzen, sich einzuheizen.
Er glaubte gelesen zu haben, dass sich Ingwer leicht pflanzen und vermehren lasse. Schien die Knolle nicht schon auszutreiben? Im Keller fand er einen runden Keramik-Topf auf drei Beinen, mit Pflanzenrelief verziert, hellgrün glasiert. Asiatisch, vermutete er.

Und doch

müssen wir reden
weil wir Menschen sind
uns der condition humaine
beugen
Wäre ich eine Pflanze in
diesem Frühling
weißes Blütenblatt oval
oder breiter
mit einem zarten Grün am Rand
das Schweigen wäre mir lieb
Der Lehre Schönheit
dass alles vergeht

Herbstprogramm 2023

Herbstprogramm 2023

Ruth Loosli

Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe

Ruth Loosli vereint in fünf Zyklen eine Vielfalt von Themen: Politik und Gesellschaft vermischen sich mit persönlichen Erfahrungen und Eindrücken. Alltägliche Bilder sind hinterlegt mit Fragen an diese Welt. Klimawandel und die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine sind in Ruth Looslis Gedichten spürbar. Auch die Pandemie und die damit verbundene Zeit des Eingesperrtseins klingen nach. Im Zyklus «Spiele um Liebe» setzt die Dichterin ihren Wortwitz gekonnt in Szene.
Trotz ernster Untertöne gelingt es Ruth Loosli immer wieder, in wenigen Zeilen Heiterkeit und Lichtblicke zu zeichnen. – Begleitet wird die Lektüre von Schreibbildern der Autorin.

Das Wasser schlägt unermüdlich seine
Morsezeichen gegen die Strandmauer.
Immer noch Analphabetin, lese ich
mit den Sinnen den Algengeruch,
die Möwenschreie, das Sommergefühl.

Aus Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe.

Oktopus-Variationen

Im vergangenen Winter war der Oktopus-Club der letzte Schrei in der Stadt. Wer etwas auf sich hielt, verbrachte das Wochenende da. Am Eingang erhielt man einen mysteriösen Cocktail, eine VR-Brille und einen Ganzkörperanzug, der mit Elektroden versehen war. Damit tauchte man in eine virtuelle Meereswelt ein. Das Erstaunlichste am Ganzen war, dass man sich plötzlich als Oktopus empfand.

Unterwegs bin ich alles,
was ich sehe, Licht und Dunkel,
Wald und tiefes Wurzelwerk,
wie auch Vögel und Schnecken
am Wegrand. Unterwegs bin
ich Erde, die daliegt und sich
mit allem vermengt.

Eines sanglosen Morgens

Willkommen Amsel, Drossel, Fink und Star! Seht euch vor, nehmt euch vor dem Graureiher in Acht! Es seien ausdrücklich alle gewarnt: Die Graureiher, wie es sie einmal gab, sind vor einiger Zeit schon ausgestorben … ausgerottet worden, das trifft’s wohl eher. Was da stoisch auf den Feldern steht, unseren alten grauen Freunden zum Verwechseln ähnlich, das sind hochmoderne Überwachungs- und Kampfmaschinen. Wo ein falscher Grauer steht, sich in Gelassenheit und vermeintlich seinsgerechter Langsamkeit übt, fliegt bald kein Vogel mehr.

Wolkenformationen

Schwan löst sich auf
Kamel verliert seinen Höcker
Wir sitzen am Ufer des unteren Sees

Wir sind Gesellschaft
Ausgeschlossen
Eingeschlossen

Das Wolkenschloss treibt uns
in wilde Spekulationen
wer wir sind und sein wollen

Mein gebildetes Kalb

Mein Kalb verdanke ich der Förderung für Hochbegabte. Wie es dazu kam, werde ich gleich berichten. Unter uns sprechen wir kaum darüber. Zumal das Kalb eigentlich eher wortkarg ist. Unser Gedankenaustausch erfolgt vorwiegend telepathisch. So etwa auf den entdeckungsfreudigen Spaziergängen, die wir unternehmen. Wir besuchen Sehenswürdigkeiten der Natur, aber auch Gedenkstätten der Vergangenheit. Bei unserem Ausflug zu einem eher unbekannten Pferdedenkmal wagten wir kürzlich einen Glockenzug am Tor des Landsitzes, auf welchem, vor 100 Jahren, Rilke sich auf die späteren Sonette an Orpheus einstimmte.

Mauerlæufer 9 Ankünfte Auskünfte Zukünfte

Der Mauerlæufer ist hervorgegangen aus einer Initiative von AutorInnen rund um den Bodensee. Die erste Nummer des Literarischen Jahreshefts ist 2014 erschienen, Nummer 8 im September 2022. Jede Nummer hat ein Thema und bringt eine Vielfalt von Texten, Bildern, Fotos, alles in origineller graphischer Gestaltung.

Für die Schweiz besorgt der Caracol Verlag den Vertrieb. Alle noch lieferbaren Nummern von Mauerlæufer können über uns bestellt werden.

L'allodola

Ho toccato le nebbie del mattino
appese ai rami scarni degli ontani
lungo il torrente nella valle azzurra.
C’era in alto la voce di un’allodola.
Incredibile il sole poi m’avvolse:
fumavano le pietre come dorsi.

Die Lerche

Ich habe die Frühnebel berührt,
längs des Flusses hingen sie an den nackten
Erlenästen im blauen Tal.
Ganz oben die Stimme einer Lerche,
und die Sonne hüllte mich unglaublich ein:
Wie Rücken rauchten die Steine.

Frühjahrsprogramm 2023

Frühjahrsprogramm 2023

Plinio Martini

E in ogni crepa dorme una lucertola

Diese rund fünfzig Gedichte des Tessiner Autors Plinio Martini (1923 – 1979), ins Deutsche übersetzt von Christoph Ferber, stellen auch im italienischen Original die bisher weitaus grösste Auswahl von Martinis Lyrik dar. Plinio Martinis Lyrik kennt drei Schaffensperioden. Die erste ist lyrisch und elegisch; die zweite wird durch ihr religiöses Engagement charakterisiert. Die dritte lyrische Schaffensperiode folgt unmittelbar auf das Erscheinen des ersten Romans «Il fondo del sacco», 1970 («Nicht Anfang und nicht Ende», 1974); es handelt sich vor allem um Gedichte epigrammatischen Charakters. Christoph Ferbers Auswahl berücksichtigt mit Gleichgewicht alle drei Schaffensperioden.

Frühjahrsprogramm 2023

Frühjahrsprogramm 2023

Irène Bourquin

Schattenkaleidoskop

Lebendige Bilder einer Reise nach Süden: Anfangs macht die Autorin Halt beim Napoleon-Denkmal auf der Prairie de la rencontre in den französischen Alpen, am Schluss taucht sie ein ins Gewimmel der Festa di San Pietro in Finale Ligure. Von der Provence über die Côte d’Azur nach Ligurien: Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen finden lyrischen Ausdruck. Es sind knappe, konzentrierte Sprachbilder. Mit wenigen Worten schafft die Autorin Atmosphäre. Hinter dem Heute bleibt die Geschichte dieser Landschaften präsent. In der Gegenwart wird auch latente Bedrohung spürbar. – Zeichnungen von Isabella Looser begleiten die Texte.

Salve grüßen sie hier
Reisen heißt
untreu sein
immer neu sich verlieben
in Landschaften
Städte Sprachen
Klänge Gerüche
den Summton
des Lebens

Wieder steht der Zug. Zwischen Wolkenbändern blauer Himmel. In der Ebene ein rosa Häusergeviert. Eine Wäscheleine über einen Hof. Ein ins Freie gehängter Anzug. Nadelstreif, denke ich. Dahinter ein weißes Kleid. Ein heller Unterarm hebt sich. Eine Hand greift nach der Leine, zieht. Das Kleid baumelt hin und her. Eine Wendung. Die Hand fasst nach dem Kleid. Weißer Tüll bläht sich, fällt durch die Luft, taucht in einer schattigen Tiefe weg. Sonnenlicht fällt auf rotes Haar.
Der Zug rollt wieder an. Es regnet erneut.

Pisa liegt hinter grauen Feuchtigkeitsschleiern. Als wir ankommen, reißt das Gewölk erneut auf. Vittorio Emanuele II. spiegelt Glanz.

Frühjahrsprogramm 2023

Frühjahrsprogramm 2023

Ruth Erat

Zug nach Tatti

Ruth Erat erzählt in zwei verflochtenen Strängen von einer Reise in die Toskana, die zum Abenteuer wird, und von Trauer: über den Verlust eines geliebten Menschen wie auch über den Zustand der Welt. Was kann ein erfülltes und zugleich zwangsläufig prekäres Leben sein? Soll die Protagonistin Johanna in Tatti ein billiges Haus kaufen oder genügt ein warmer Mantel? «Eine Autofiktion mit Übermalungen» nennt Ruth Erat ihr Buch, das Lukas Erat graphisch gestaltet hat.

Place Gambetta

Lebhaft wedelnde
Schattenornamente
junger Bäume
auf dem stillen
kleinen Kirchplatz
widersprechen
geschlossenen Läden
dem Schild à vendre

Der Organist übt
klangvoll

A carnevale finito, c’è chi mescola
con la cenere gli ultimi coriandoli.
Fra tanto spreco liturgico
questo sacro memento
mi sembra il rito più importante:
amo la vita, e tanto più
se da cenere a cenere dura un istante.

***

Wenn der Karneval aus ist, mischt
jemand Konfetti mit Asche.
In all dem liturgischen Aufwand
ist dieses Memento für mich
der wichtigste aller Riten:
Ich liebe das Leben, umso mehr,
wenn es von Asche zu Asche
nur einen Augenblick währt.

Die Alten sitzen neben den Marien und der TV-Werbung. Eine verschwindet auf schiefen Beinen in der Kirche, kniet vor dieser Maria und vor jener. Vor Santa Maria Assunta und Santa Maria Maggiore, vor Santa Maria Formosa, Santa Maria Immaculata, Santa Maria Dolorosa, Santa Maria Regina. Formosa Regina, singt Pia vor sich hin.
Sie steht auf dem weiten Platz auf dem Hügel. Sie tanzt. Der Mann, der an die Wand gelehnt dasteht, lacht ihr zu. Ein weißes Shirt unter einem dunklen Anzug. Glänzende Schuhe. Auch seine nackten Fesseln sind braun gebrannt. Keine behaarten Beine, denkt Pia, keiner dieser Männer vom Land.
Al mare!, ruft er ihr am nächsten Abend zu.

Ascoltare il cucù che ci spalanca
verdi colline, nubi,
e perdere nel cielo della sera,
di un secolo più stanchi,
un triangolo d’uccelli migratori.

***

Dem Kuckucksruf lauschen, der uns grünende
Hügel – und Wolken – eröffnet,
und zugleich am Abendhimmel,
ein Jahrhundert erschöpfter,
ein Dreieck von Zugvögeln verpassen.

Grüner Strudel
die Palmwedel
über der Promenade
Mercato di San Giovanni
munteres Gewimmel
am Rand im Halbschatten
zwei mütterlich füllige
Afrikanerinnen
sie flechten die Zöpfchen
blonder Kinder

Lesefutter für Zuhause

Futterhäuschen

Im Futterhäuschen finden Sie alle Texte, die von Ende März bis Anfang Mai 2020 als «Lesefutter für Zuhause» auf der Startseite unserer Verlagswebsite erschienen sind.