Der Anfang 2020 gegründete Caracol Verlag der Autorinnen & Autoren soll Schreibenden in der Schweiz und darüber hinaus eine Heimat bieten.

Caracol ist spanisch und bedeutet Häuschenschnecke. Caracol nannten die Spanier ein Observatorium in der Maya-Stadt Chichén Itzá (Yucatán/Mexiko), wegen der gewundenen Treppe, die im Innern in die Tiefe führt. Ausblick und Weg nach innen: Für beides ist der Verlag offen.

Caracol ist ein «Haus» für Schreibende wie auch für ihre Leser. Wer schreibt / wer liest, zieht sich ins Schneckenhaus zurück, steigt hinab ins Innere, die Psyche, oder hinauf zum Ausblick über Landschaft und Gesellschaft, Zeit und Welt.

Wir verlegen Prosa und Lyrik. Der Schwerpunkt des Verlagsprogramms liegt auf literarischer Qualität und gesellschaftlich relevanten Themen.

Frühjahrsprogramm 2023

Frühjahrsprogramm 2023

Plinio Martini

E in ogni crepa dorme una lucertola

Diese rund fünfzig Gedichte des Tessiner Autors Plinio Martini (1923 – 1979), ins Deutsche übersetzt von Christoph Ferber, stellen auch im italienischen Original die bisher weitaus grösste Auswahl von Martinis Lyrik dar. Plinio Martinis Lyrik kennt drei Schaffensperioden. Die erste ist lyrisch und elegisch; die zweite wird durch ihr religiöses Engagement charakterisiert. Die dritte lyrische Schaffensperiode folgt unmittelbar auf das Erscheinen des ersten Romans «Il fondo del sacco», 1970 («Nicht Anfang und nicht Ende», 1974); es handelt sich vor allem um Gedichte epigrammatischen Charakters. Christoph Ferbers Auswahl berücksichtigt mit Gleichgewicht alle drei Schaffensperioden.

L'allodola

Ho toccato le nebbie del mattino
appese ai rami scarni degli ontani
lungo il torrente nella valle azzurra.
C’era in alto la voce di un’allodola.
Incredibile il sole poi m’avvolse:
fumavano le pietre come dorsi.

Die Lerche

Ich habe die Frühnebel berührt,
längs des Flusses hingen sie an den nackten
Erlenästen im blauen Tal.
Ganz oben die Stimme einer Lerche,
und die Sonne hüllte mich unglaublich ein:
Wie Rücken rauchten die Steine.

Salve grüßen sie hier
Reisen heißt
untreu sein
immer neu sich verlieben
in Landschaften
Städte Sprachen
Klänge Gerüche
den Summton
des Lebens

Frühjahrsprogramm 2023

Frühjahrsprogramm 2023

Irène Bourquin

Schattenkaleidoskop

Lebendige Bilder einer Reise nach Süden: Anfangs macht die Autorin Halt beim Napoleon-Denkmal auf der Prairie de la rencontre in den französischen Alpen, am Schluss taucht sie ein ins Gewimmel der Festa di San Pietro in Finale Ligure. Von der Provence über die Côte d’Azur nach Ligurien: Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen finden lyrischen Ausdruck. Es sind knappe, konzentrierte Sprachbilder. Mit wenigen Worten schafft die Autorin Atmosphäre. Hinter dem Heute bleibt die Geschichte dieser Landschaften präsent. In der Gegenwart wird auch latente Bedrohung spürbar. – Zeichnungen von Isabella Looser begleiten die Texte.

Frühjahrsprogramm 2023

Frühjahrsprogramm 2023

Ruth Erat

Zug nach Tatti

Ruth Erat erzählt in zwei verflochtenen Strängen von einer Reise in die Toskana, die zum Abenteuer wird, und von Trauer: über den Verlust eines geliebten Menschen wie auch über den Zustand der Welt. Was kann ein erfülltes und zugleich zwangsläufig prekäres Leben sein? Soll die Protagonistin Johanna in Tatti ein billiges Haus kaufen oder genügt ein warmer Mantel? «Eine Autofiktion mit Übermalungen» nennt Ruth Erat ihr Buch, das Lukas Erat graphisch gestaltet hat.

Wieder steht der Zug. Zwischen Wolkenbändern blauer Himmel. In der Ebene ein rosa Häusergeviert. Eine Wäscheleine über einen Hof. Ein ins Freie gehängter Anzug. Nadelstreif, denke ich. Dahinter ein weißes Kleid. Ein heller Unterarm hebt sich. Eine Hand greift nach der Leine, zieht. Das Kleid baumelt hin und her. Eine Wendung. Die Hand fasst nach dem Kleid. Weißer Tüll bläht sich, fällt durch die Luft, taucht in einer schattigen Tiefe weg. Sonnenlicht fällt auf rotes Haar.
Der Zug rollt wieder an. Es regnet erneut.

Pisa liegt hinter grauen Feuchtigkeitsschleiern. Als wir ankommen, reißt das Gewölk erneut auf. Vittorio Emanuele II. spiegelt Glanz.

Ich grabe meine Füße in den Sand, verharre einige Zeit im Abendlicht. Dann streife ich den Pullover über, gehe noch einmal im knöcheltiefen Wasser an leeren Liegestühlen vorbei, mein Gepäck auf den Rücken geschnallt, in jeder Hand einen Schuh.
Ich weiß, ich habe aus purem Trotz dieses spitze, hinten offene Schuhwerk gewählt. Aus Trotz gegen mich selbst.
Eine Uferpromenade wäre meinen Schuhen angemessen. Nun läuft Sand in sie, verstaubt das rote Oberleder. Oben in Tatti werde ich versuchen, wie eine jener schönen Römerinnen an der Via Margutta über die Pflastersteine zu balancieren. Leicht. Elegant. Und ich werde stolpern, auf dem Boden liegen, alle Viere von mir strecken. Kinder werden mich sehen, auf mich zeigen, auf eine Gestrauchelte, lachen.

Pensare
che della vita di un uomo
resti qualcosa di più
che questa traccia di lepre sulla neve
quasi rettilinea
dalla fossa del ruscello
a quel boschetto di nocciòli.

***

Denken,
dass vom Leben eines Menschen
etwas mehr als nur diese Hasenspur
übrigbleibt, gradlinig fast
auf dem Schnee,
vom Graben des Bachs
bis zum Nussbaumhain.

Übermalung aus Zug nach Tatti.

Aus Schattenkaleidoskop

Menschen sind in die Bar gekommen. In der Ecke sitzt der Mann vom Strand. Auch die Hunde sind dabei. Aber die Frau im gestreiften Bikini fehlt. Ob sie in Follonica lebt? Eine späte Liebe? Nein. Ein alter Mann und eine ältere Frau und Jahrzehnte einer Gewohnheit: Tage am Strand. Dasitzen. Im Wasser liegen. Oder oben in der kleinen Stadt in der Bar im Halbschatten Zeit verstreichen lassen, während die Frau einkauft und kocht. Bald wird sie nach ihm rufen: Antonio, mangiare!
Tag für Tag klingt die Stimme durch die Gasse: Antonio, mangiare!
Und von anderswoher: Pietro, mangiare, Sergio, Emilio, Mateo, mangiare!

Massiv des Maures

Schlängelstraße
durch wuchernde Wälder
Korkeichen Kiefern Kastanien
sattes Grün auf roter Erde
Ginsterflammen leuchtend
weiße Striche am Rand
tückische Straßengräben
im Hitzehorizont
der Feuerteufel

Primavera

Il pesco ha tanta gioia di fiorire
che roseo s’alza fra la terra e il cielo
sospeso come lieve nuvoletta.
Il cocco mio lo guarda
(bianco il grembiule in mezzo al verde prato):
ha gli occhi così grandi per la meraviglia,
e la palla, cadutagli di mano,
fra l’erbe giace, come fior, vermiglia.

Frühling

Der Pfirsichbaum liebt es zu blühen:
Zwischen Himmel und Erde erhebt er sich
rosa, als leichteste Wolke.
Mein Herzkäfer schaut ihn an
(weiß seine Schürze im grünen Feld);
die Augen sind groß vor Verwunderung,
und der Ball, seiner Hand entglitten,
liegt, einer Blume gleich, rot zwischen Gräsern.

Mauerlæufer 8 Strom/Strömung

Der Mauerlæufer ist hervorgegangen aus einer Initiative von AutorInnen rund um den Bodensee. Die erste Nummer des Literarischen Jahreshefts ist 2014 erschienen, Nummer 8 im September 2022. Jede Nummer hat ein Thema und bringt eine Vielfalt von Texten, Bildern, Fotos, alles in origineller graphischer Gestaltung.

Für die Schweiz besorgt der Caracol Verlag den Vertrieb. Alle noch lieferbaren Nummern von Mauerlæufer können über uns bestellt werden.

Herbstprogramm 2022

Herbstprogramm 2022

Sabine Abt

fischfarbenprisma

In ihrem ersten Lyrikband nimmt Sabine Abt uns mit in ihr spontanes Erleben, das emotional ist, aber auch reflektiert wird, wobei sie überraschende Bilder findet für Visionen einer flimmernden Wirklichkeit. Im Betrachten der Natur, die als beseelt erscheint, wird die Autorin zur «Übersetzerin» zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen. Doch der Themenfächer öffnet sich weiter: der Mensch im Lauf der Jahrtausende; Liebe, Leben und Sterben; Politik und die Erlebniswelt eines Kindes.
Sabine Abts Lyrik ist geprägt von fliessenden, manchmal tanzenden Rhythmen, von Klanggesang und Alliterationen – die Musikerin die sie auch ist, wird in den Gedichten spürbar.

leichtigkeit am hang

föhrennadelduft fläzt auf kalkstein
zu flimmernder weiße erhitzt
und graslilien neigen blüten
in die leere
in die
zwitschernd ein vogel fällt
die kinder rufen stand!
eine kletterwand mehr im rucksack
die luft steht reglos
wie eine schwebefliege

Jan Vermeer umkreisend

Von der Idee auszugehen, in Delft zu sein.
Spitzenklöpplerin, Astronom, Geograf.
Gemalt auf den Stufen der Farbtonleiter,
Ultramarin, Bleizinngelb und Zinnober.
In der Küche stehend oder im Arbeitszimmer,
wie immer in der Verrichtung des Alltags,
mit dem Steckzirkel Seekarten abschreitend,
nähend, lesend, musizierend, schlafend.
Jedes Gesicht das Porträt aller Gesichter,
Rollen, angenommen für die Camera obscura,
für ein Stück Käse, einen gedeckten Tisch.
Angehaltene Bewegungen, Genrebilder
für das Licht und die Allegorie des Lichts
und die Harmonisierung von Schwarz.
Von der Idee auszugehen, von der Haarnadel
der Briefleserin, dem Perlenohrgehänge.
Porzellan der Idee, Anheben des Milchkrugs,
Gitarrenspiel, Klang des Virginals.

Herbstprogramm 2022

Herbstprogramm 2022

Clemens Umbricht

Das Alphabet des Archaeopteryx

Dieser Gedichtband von Clemens Umbricht nimmt die Lesenden in sieben Kapiteln mit auf imaginäre Reisen in verschiedene Erdteile und Epochen. Das Alphabet des Archaeopteryx überfliegt weite Zeiträume und führt nah an die Gegenwart heran, in die Gedankenwelten von Alberto Giacometti, Stan Laurel, Mary Wollstonecraft Shelley und von vielen weiteren Exponent*innen der Zeitgeschichte. Stets lauscht ihnen der Autor überraschende Einsichten ab. Berichte von Gedankenreisen, Selbstbefragungen: Clemens Umbrichts neue Gedichte bewegen sich assoziationsreich zwischen Literatur und Philosophie, Lyrik und Prosa. Mit soviel Ernst wie Selbstironie und Witz misst der Autor «die Widersprüche am Luftdruck» und «schüttelt Fortsetzungspunkte aus den Sandsäcken / im Heißluftballon hinter den Erklärungen.»

kein abstieg

auf dem berggipfel
einfach sitzenbleiben

zuschauen
wie die flanken sich röten

licht wie aus glas

himmel und haut violett
werden lassen

schwarzgerändert
in sternenlöchern
verschwinden

Der König der Irrtümer

Er ist wieder einmal im falschen Film.
Wenn ihm niemand mehr glaubt,
ruft er noch einmal «Feuer».

Es hat weder die Schafherde gegeben
noch den Wolf, der sie gerissen hat –
und als nichts geschah, war er in Uppsala.

Manchmal kühlt er seinen Kopf
mit den befremdlichen Budgetzahlen
im Teich hinter dem Haus.

[…]

Lesefutter für Zuhause

Futterhäuschen

Im Futterhäuschen finden Sie alle Texte, die von Ende März bis Anfang Mai 2020 als «Lesefutter für Zuhause» auf der Startseite unserer Verlagswebsite erschienen sind.