E in ogni crepa dorme una lucertola


E in ogni crepa dorme una lucertola
E in ogni crepa dorme una lucertola
Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse
Poesie – Gedichte
Nachwort von Alessandro Martini
Übersetzung: Christoph Ferber
144 Seiten
12 × 20.5 cm
2. Auflage
April 2023 (Erstauflage)
September 2023 (2. Auflage)
Reihe: Caracol Lyrik, Band 9
978-3-907296-20-2
  • 22 CHF
  • 20 €
Lieferbar

Plinio Martinis Lyrik kennt drei Schaffensperioden. Die erste ist lyrisch und elegisch und findet sich in den beiden ersten im Druck erschienenen Werken des Autors.
Die zweite wird durch ihr religiöses Engagement charakterisiert; aber nur vereinzelte Gedichte daraus wurden in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, war doch die geplante Veröffentlichung des dritten Lyrikbandes zuerst durch Schwierigkeiten bei der Verlagssuche, dann durch das nachlassende Interesse des Dichters, der für sich neue Ziele gefasst hatte, gescheitert. Die tiefgreifenden Veränderungen in der Kultur und der Gesellschaft der Sechzigerjahre haben den Autor auch anderweitig sehr in Anspruch genommen.
Die dritte lyrische Schaffensperiode folgt unmittelbar auf das Erscheinen des ersten Romans Il fondo del sacco (1970, Nicht Anfang und nicht Ende), und zwar noch bevor er mit der Arbeit an seinem zweiten Roman Requiem per zia Domenica (1975, Requiem für Tante Domenica) begann. Es handelt sich vor allem um Gedichte epigrammatischen Charakters, von denen die meisten erst postum veröffentlicht wurden.

Christoph Ferbers Auswahl berücksichtigt mit Scharfsinn und Gleichgewicht alle drei Schaffensperioden. Neunzehn Gedichte stammen aus Paese così (1951), Martinis Erstling mit dem programmatischen Titel; zehn Gedichte aus dem zwei Jahre darauf erschienenen Diario forse d’amore (1953), neun aus Ed eri in mezzo a noi der religiösen, bis heute unveröffentlichten Sammlung, die 1963 druckfertig war. Schließlich dreizehn Gedichte aus der Zeit 1972–1973, die meist postum erschienen sind; einige wenige wurden in François Lafrancas Kunstdruck Le catene (1975) publiziert.

Diese rund fünfzig ins Deutsche übersetzten Gedichte stellen auch im Original die bisher weitaus grösste Auswahl von Martinis Lyrik dar.

Textauszug

L'allodola

Ho toccato le nebbie del mattino
appese ai rami scarni degli ontani
lungo il torrente nella valle azzurra.
C’era in alto la voce di un’allodola.
Incredibile il sole poi m’avvolse:
fumavano le pietre come dorsi.

Die Lerche

Ich habe die Frühnebel berührt,
längs des Flusses hingen sie an den nackten
Erlenästen im blauen Tal.
Ganz oben die Stimme einer Lerche,
und die Sonne hüllte mich unglaublich ein:
Wie Rücken rauchten die Steine.

Processione

Con tanto tempo che portiamo
di povertà faticosa fino a questo
rassegnato tornare in processione
nei campi a implorare la pioggia,
con tanti secoli sul dorso, il passo
è sempre quello della gerla, chini
dietro la statua del Santo pietoso
che curò gli appestati, e noi poveretti
con il nostro stentare guarderà dal cielo.
Ci guarda intanto un gruppo di turisti
dall’ombra delle case, dov’esce il sentiero
che ci ha sgranati dentro il solleone,
prima fra gli orti, e poi
sulla cotica secca dei prati.
Fanno fotografie. Porteranno nel Nord,
dentro città complicate e brumose,
la nostra offerta intimità:
ori barocchi, stracci, e questo
cantare strascicato, che è patire,
e fa tanto folclore.

Prozession

Wie lange schon tragen wir
unsere mühsame Armut in dieser
wie immer schon resignierten Zuflucht
zur Prozession durch die Felder, um Regen
zu erflehen, mit wieviel
Jahrhunderten auf dem Rücken,
im langsamen Schritt der Tragkörbe-
träger, gebeugt hinter der Statue
des barmherzigen Heiligen,
der die Pestkranken heilte und uns
in unserer Mühsal vom Himmel
her zuschaut. Im Schatten der Häuser,
wo der Weg anfängt, der uns, zuerst
zwischen Gärten, dann auf der trockenen
Erde der Wiesen, mit seiner
Mittagssonne fast schält, beschaut uns
eine Gruppe Touristen. Man schießt
Fotografien. Anderswohin, nach Norden,
in unübersichtliche, dunstige Städte,
bringen sie unsere dem Heiligen
geopferte Intimität:
barockes Gold, armselige Kleider, und
diesen schleppenden Gesang, der Leid
bedeutet, für sie aber nichts als Folklore.

*

Pensare
che della vita di un uomo
resti qualcosa di più
che questa traccia di lepre sulla neve
quasi rettilinea
dalla fossa del ruscello
a quel boschetto di nocciòli.

*

Denken,
dass vom Leben eines Menschen
etwas mehr als nur diese Hasenspur
übrigbleibt, gradlinig fast
auf dem Schnee,
vom Graben des Bachs
bis zum Nussbaumhain.

Rezensionen

Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse – E in ogni crepa dorme una lucertola

Müsste ich mich auf drei Dinge festlegen, die mir an Martinis Lyrik besonders gefallen, würde ich sagen: Seine Kunstfertigkeit in der Verdichtung, seine klare Sprache und sein Hang zu poetischen Bildern.
[…]
Zum Schluss ein Beispiel, das zeigt, wie Martini auf freie Art und in äusserster Kürze ein starkes melancholisches Gefühl zu vermitteln vermag:

Und immer diese Einsamkeit
wie ein Segel im Meer
ohne Wind.

  • Gabriel Anwander
in orte - Schweizer Literaturzeitschrift Nr. 223, «Übersetzen – der Dichter des Dichters sein» am 20. Oktober 2023

La voce dell'anima di Plinio Martini

Con una copertina verde come i ramarri della Val Bavona, è fresco di stampa per la collana Lirica della Caracol, un volumetto che raccoglie buona parte della produzione poetica – la sola oggi disponibile – di Plinio Martini. Una novità, que si inserisce nel calendario delle celebrazioni per il centenario della nascita dello scrittore valmaggese (4 agosto 2023) e al tempo stesso una sorpresa, poiché pochi sapevano di questa produzione. Lo stesso Martini, dice il figlio Alessandro, che ha curato assieme a Christoph Ferber la raccolta, considerava le sue poesie un frutto pressoché acerbo degli anni giovanili, non meritevole di particolare considerazione dopo il successo riscosso con «Il fondo del sacco». In realtà così non è perché ci si trova di fronte a un’ antologia di grande spessore, preludio alle composizioni in prosa, che tutti conoscono e apprezzano.
[…]
Plinio Martini ha per lo più vissuto a Cavergno e in Val Bavona: vede, scruta, sente, ascolta, s’immerge nella solitudine, la sua poesia è un seguito di instantanee con una conclusione esemplare che ha il sapore dell’evidenza: «ritorno in me / come dopo l’abbraccio»; […] «come le calde pietre del tramonto / io sento allora d’essere felice» («Allegria»). […] La nebbia continuerà a scendere impietosa dalle ripide pareti della Bavona ma in alto sbocceranno sempre i fiori. Plinio Martini era esperto di fauna e di flora alpina.
[…]
Il richiamo è a «La creazione»: «Rubini smeraldi ametiste, / chiare perle dei fondi marini», una piccolezza que «accresce il mondo». Piccole cose ben dette (benedette) fanno amare la poesia.

  • Carlo Melchioretto
in La Rivista - Mensile illustrato del Locarnese e Valli N. 8-9, agosto-settembre 2023 am 17. September 2023 (Website)

Sie verwünschten und liebten ihr Tal

Plinio Martini […] war ein Elegiker aus Leidenschaft und Überzeugung. Er schrieb, sei es als Romancier, als Poet oder als Journalist, über die verlorene Zeit. Und stemmte er sich auch gegen die Verluste, so wusste er doch, dass er auf einem einsamen Posten kämpfte. Wie einsam er mitunter war, geht auch aus seinem lyrischen Werk hervor. Daraus hat der Übersetzer Christoph Ferber gerade erstmals eine repräsentative Auswahl zusammengestellt und ins Deutsche übersetzt. Unter dem Titel «Abend» liest man nun dieses emblematische, an Giuseppe Ungarettis «Schiffbrüche» erinnernde Gedicht: «Und immer diese Einsamkeit / wie ein Segel im Meer / ohne Wind.»
Die Vergeblichkeit und die Flüchtigkeit in allem Irdischen haben sich als wiederkehrende Motive in diese Gedichte eingeschrieben. Es erstaunt dabei nicht, dass Plinio Martini, der sowohl religiös wie naturverbunden war, gerade dort die stärksten Bilder findet, wo er sich dem Kreatürlichen, der Schöpfung zuwendet. «Das Herz, das im Hals der Eidechse / auf der Mauer dort schlägt, ist das vielleicht / die vorbeieilende Zeit?» Doch selbst hier, wo die Welt still in sich ruht, erkennt der Melancholiker ein Memento mori.

  • Roman Bucheli
in Neue Zürcher Zeitung am 4. August 2023 (Website)

Älpler, Christ, Marxist

All diese Themen, die Stille des Älplerlebens, der Lärm der Maschinenwelt, die Religiosität des Bergvolks, die Kirche, die Sparsamkeit der Ärmsten und die Verschwendung der Konsumgesellschaft, sind zentrale Motive in Martinis Werk, etwa in “Requiem für Tante Domenica”. Die Erzählung erschien 1975 zunächst in der Deutschschweiz und erst danach im Tessin. Martini schrieb auch zahlreiche Streitschriften gegen den Bau der Wasserkraftwerke, Kurzgeschichten und Gedichte. Der junge Schweizer Caracol Verlag hat mit dem Sammelband Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse kürzlich 50 seiner Gedichte publiziert, darunter auch unveröffentlichte.

  • Alexander Grass
in Die Zeit Nr. 33/2023 am 2. August 2023 (Website)

Una lucertola in ogni crepa

Artefice dell’impresa editoriale, Christoph Ferber, tra i massimi traduttori di poesia, che ha restituito nella lingua di Goethe cinquanta componimenti di Martini in un prezioso volume, il cui titolo compendia un verso dello scrittore tratto da Meriggio: E in ogni crepa dorme una lucertola (Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse). Titolo che ha il pregio di offrire al lettore, affiancati, i testi nella versione originaria italiana e in quella di approdo. Sin dal titolo del volume, suono e senso sembrano riflettere l’itinerario intellettuale e letterario di Plinio Martini, per sempre strenuo difensore delle ragioni vitali del suo paese e della sua valle, negli anni Cinquanta e Sessanta, periodo in cui la civiltà rurale ha subìto il più forte urto della modernità, provocando inesorabili mutamenti sociali e territoriali. Un contesto che ha caratterizzato il forte impegno civile dello scrittore […].
Una sorpresa per molti, insomma. Il volume trova poi il suo cerchio nella circostanziata analisi dell’ampio corpus poetico nella postfazione a firma di Alessandro Martini che ripercorre e distingue le stagioni liriche del poeta e colloca con precisione la sua produzione prosastica, annotando fra l’altro come nella prima poesia emerga «l’aspetto elegiaco, ossia una poesia improntata a un tono meditativo e malinconico di compianto» e che «ha nutrito la prosa matura. Chi apprezza la prosa vorrebbe conoscere anche la poesia, oggi non più disponibile, neppure antologicamente».

  • Guido Grilli
in Azione am 31. Juli 2023 (Website)

Lyrik für alle Fälle – Stimmungsbilder aus dem Maggiatal

Feine Skizzen des einfachen Dorflebens und besonnene Blicke in die Natur und Landschaft prägen die Auswahl. Oft ist der Wechsel der Jahreszeiten präsent, der dem Leben der Menschen Struktur und Gestimmtheit gibt. […] Martini blendet die Enge und das Elend auf dem Dorf nicht aus. Doch es überwiegt in seinen klangvollen Versen das Lob und die Feier der schlichten Schönheit des rustikalen Lebens.

  • Florian Bissig
in Kulturtipp Nr. 16/2023 am 19. Juli 2023 (Website)

Plinio Martini poeta

A cent’anni dalla nascita, Plinio Martini (4.8.1923 – 6.8.1979) riceve un valido omaggio postumo: la versione tedesca di una cinquantina delle sue poesie, scelte e tradotte da Christoph Ferber e appena pubblicate da Caracol. Le poesie dell’autore, noto – da noi, ma anche Oltralpe – soprattutto per i suoi due romanzi («Il fondo del sacco» e «Requiem per zia Domenica»), sono poco conosciute dai lettori di lingua italiana e ancor meno da quelli di lingua tedesca […]
Ci voleva la traduzione a ridare nuovo, meritato respiro a uno dei nostri poeti che, come molti poeti, hanno trovato giusto riconoscimento piuttosto con le loro più tardive opere in prosa.

  • Elena Spoerl
in L'Osservatore am 3. Juni 2023 (Website)

Ein Dorf wird besungen – und ausgelöscht

«Dorf / immer gleich für den Blick / wie der Atem natürlich.» Mit dieser Anrufung beginnt Plinio Martinis Gedicht «Dorf» und mit dem gleichnamigen Gedichtband von 1951 auch sein publiziertes Werk. Hier, gleichsam in stabilem Naturzustand, ist das lyrische Ich aufgewachsen […]
Ein bukolisches Tableau, das in die vom globalisierten Zeitgeist vor sich hergetriebene helvetische Volksseele fliesst wie Öl. Und klingt es nicht authentisch aus dem Mund von Plinio Martini (1923–1979), der im Dorf Cavergno im Maggiatal geboren wurde und sein Leben dort verbrachte? Treu diente er seinem «paese» als Lehrer und verewigte es später in den beiden Romanen. Doch begonnen hat er mit der Poesie, die heute, zu Martinis 100. Geburtstag erstmals in einer deutschsprachigen Auswahl vorliegt. Eine Entdeckung, die dem Übersetzer Christoph Ferber zu verdanken ist, der schon manchem Tessiner Dichter über die Alpen geholfen hat. […]
Über sein «Dorf des allzu gesunden Menschenverstands» ist der Sprecher nicht restlos glücklich. In zu grosse Kleider des älteren Bruders gesteckt, ist er «für die mittlere Not» geboren. Sein Leben ist grau und traurig, aber «auch der Schmerz wurde mir nicht vergönnt». Der junge Mann sehnt sich nach Freiheit, nach Ausbruch aus diesem rustikal-biederen Perpetuum mobile von Vernunft, Mass und kargem Mittelmass. «Cancellarti!» «Dich auslöschen vermaledeites Dorf / mit einem einzigen Handstreich», so entfährt es dem zuvor so diskreten Sprecher plötzlich mit Donnerstimme. […]

  • Florian Bissig
in Aargauer Zeitung am 1. Juni 2023 (Website)
in Bote der Urschweiz am 1. Juni 2023 (Website)
in Luzerner Zeitung am 1. Juni 2023 (Website)
in St.Galler Tagblatt am 1. Juni 2023 (Website)

Poesie aus einer widersprüchlichen Welt – «Und immer diese Einsamkeit»

Die Gedichte Martinis waren mir bisher nicht bekannt. Auch sie erzählen von einem Tessin, in dem wohl Lerchen singen und Blumen blühen, aber die alltägliche Mühsal und menschlicher Schmerz an die Endlichkeit erinnern. Gedichte auch, die von der Liebe reden, jener zu der Landschaft, den Tieren und Pflanzen ebenso wie zu den Menschen.

  • Jolanda Fäh
in daswortzumbuch.ch am 19. Mai 2023 (Website)

LeserInnen Stimmen

In italienischer Sprachmelodie und deutscher Unerbittlichkeit führen mich Martinis, einfühlsam übersetzte, Verse durch ein eher kurz aufleuchtendes Dichter-Dasein. Getragen sind die Gedichte von liebender Beobachtung und allgegenwärtigem Endlichkeitsbewusstsein: «Ich liebe das Leben, umso mehr, / wenn es von Asche zu Asche / nur einen Augenblick währt.»

Angesichts der Blumenwiesen und der «wundersamen» Winde ist unser Hinscheiden ein vorübergehendes Ereignis. Im «gewöhnlichen» Gras lernen die Paare lieben und sterben.

  • Thomas Heckendorn

Dieses Buch wurde gefördert von

  • Repubblica e Cantone Ticino, Aiuto federale per la lingua e la cultura
  • Fondation Oertli Stiftung