Trinkende Tauben
auf und unter
dick bemoosten
Brunnenschalen
beim porche
dem gewölbten
Tordurchgang
gebaut auf Geheiß
des Sonnenkönigs
Portal dem Herrscher
Abwehr der Fronde
Steuerquetsche
den Untertanen
Diese lebendigen Bilder einer Reise im Frühsommer 2019 erscheinen heute wie ein Fenster in eine unbeschwertere Vergangenheit. Am Anfang steht die Autorin vor dem Napoleon-Denkmal auf der Prairie de la rencontre in den französischen Alpen, am Ende taucht sie ein ins Gewimmel der Festa di San Pietro in Finale Ligure. Die Küste von der Provence über die Côte d’Azur bis nach Ligurien, südliche Farben und Klänge: Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen finden lyrischen Ausdruck. Es sind knappe, konzentrierte Sprachbilder. Mit wenigen Worten schafft die Autorin Atmosphäre, lässt Lesende teilhaben am mediterranen Ambiente.
Hinter dem Heute bleibt die Geschichte dieser Landschaften präsent. Im «Parc naturel régional de la Sainte-Baume» geht die Reisende auf dem Chemin des Royes hinauf zur Sainte-Baume, der Grotte der Sainte Marie-Madeleine: «Durch heiligen Wald / auf dem Chemin des Royes / wo einst Kaiser Könige / Gelehrte Poeten gingen – »
Auf dem Mont Faron, hoch über dem Militärhafen von Toulon, trifft sie einen schwarzen Panther an. In der Provence sieht sie «Wälle von knallgelbem Ginster» und «Grüne Heere / kleinwüchsiger Reben»; da ist auch latente Bedrohung: «im Hitzehorizont / der Feuerteufel». Die Strände sind idyllisch und doch ein zweifelhafter Genuss: «türkisblau lacht / das Meer / als wäre die Welt / in Ordnung». In Finale Ligure belauscht die Reisende vom Hotelbalkon aus die Dialoge und Streitigkeiten der Möwen auf benachbarten Dächern. – Diese Gedichte sind ein Reisen in der Sprache.
Trinkende Tauben
auf und unter
dick bemoosten
Brunnenschalen
beim porche
dem gewölbten
Tordurchgang
gebaut auf Geheiß
des Sonnenkönigs
Portal dem Herrscher
Abwehr der Fronde
Steuerquetsche
den Untertanen
Weiße Zirren wedeln
über den himmlischen Laufsteg
in grünwolkigen Pinien
orgelt der Wind
türkisblau lacht
das Meer
als wäre die Welt
in Ordnung
Schlängelstraße
durch wuchernde Wälder
Korkeichen Kiefern Kastanien
sattes Grün auf roter Erde
Ginsterflammen leuchtend
weiße Striche am Rand
tückische Straßengräben
im Hitzehorizont
der Feuerteufel
Waldberge
abstürzend in Klippen
flache Ziegeldächer
schlanker campanile
blaue Meersicht
auf dem First
nebenan
zwei große Möwen
in angeregter Unterhaltung
oder schon Streit
Versuch
im Schaukelstuhl
unter Zirren
ihre Sprache zu lernen
Die Dichterin hat schon in anderen Gedichtbänden ihre Reisebeobachtungen in Gedichtform gegossen. In Schattenkaleidoskop durchstreifen ihre Leser mit ihr die Provence und Ligurien, bleiben vor Statuen stehen, schlendern durch Kirchen, spazieren am Strand und entdecken dabei Befremdliches im Alltäglichen. Das Auge pickt sich Widersprüche heraus, es werden Ginsterbüsche zu Flammen, Cirruswolken wedeln über den himmlischen Laufsteg und Hunde zeigen glitzernde Aureolen.
Viele Gedichte haben mich sehr angesprochen. Interessant die Wahl der französischen und italienischen Worte, die die Eindrücke der Schriftstellerin noch mehr verstärken und bestätigen. Vor allem zwei Gedichte standen mir besonders nahe: «Miramare» erzählt von einer grossen, intensiven Liebe zum Meer. «Festa di San Pietro» beschreibt hervorragend die italienische Kultur.
Der Titel Deines neuen Gedichtbands ist bei diesem heissen Wetter ideal! Ich will Dir doch noch ein kleines Echo geben nach dem schönen Freitagabend in St. Urban. Du hast sehr gut gelesen und erzählt und uns auf Reisen südwärts mitgenommen, ich mag Deine Stimmungsbilder sehr!
Die Zeichnungen von Isabella finde ich sehr «gspürig», sie passen ausgezeichnet zu Deinen Texten.
Ich habe nun das Schattenkaleidoskop im sommerlichen Schatten nochmals und genauer gelesen, und die Sammlung gefällt mir sehr. Sie ist aus einem Guss, fügt Natur und Kultur, Himmel und Meer und das Land dazwischen in sommerlicher Stimmung zusammen, und irgendwo plätschert und fliesst es auch immer wieder. Ich mag die Möwen natürlich, auch wenn sie nicht so sicher auf den Füssen sind, die heiligen und nicht so heiligen Wälder und wie alles – dem Titel getreu – ein bewegtes und bewegendes Bild ergibt. Ein Stück Sommer zwischen Buchdeckeln, präzis beobachtet, wie immer, mit feiner Ironie, aber auch Empathie.
Irène Bourquins «Schattenkaleidoskop» illustriert mir: In der Landschaft kehrt Zeit stets wieder. Denker, Epochen und Künstler fügen sich ein in die Farben und Anspielungen der poetischen provenzalisch-ligurischen Landschaft, die vor uns vorüberzieht. Und wir fragen uns von Bild zu Bild, ob dieses selber seine Maler – oder umgekehrt eine malende Hand das Bild hervorbringe. Die Fächerpalmen in Finale Marina suggerieren uns Salvador Dalì. Alles unterliegt der schaffenden Metamorphose, begleitet von den reduktionistisch-ornamentalen Skizzen der Zeichnerin Isabella Looser – und «geht ab in die Stille der Basilika».