Tintenblau wogende Stunden


Tintenblau wogende Stunden
Cover: Frank Hänecke, Deepblue Cave, Airbrush, 1992
160 Seiten
12 × 20.5 cm
Reihe: Caracol Prosa, Band 11
978-3-907296-25-7
  • 23 CHF
  • 23 €
In Vorbereitung

Dieser Sammelband bringt surreale Geschichten von 11 Autorinnen und Autoren, die alle schon zuvor im Caracol Verlag publiziert haben. Die Texte in diesem Band sind bisher unveröffentlicht. Die Vorgabe an die zur Teilnahme Eingeladenen lautete: Geschichten mit irgendwie surrealem Touch. Die Schreibenden hatten also viel Freiheit und konnten ihre Phantasie beliebig spielen lassen. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Texten, die inhaltlich wie stilistisch auf ganz verschiedene, je eigene Weise faszinieren: ein buntes Feuerwerk des Surrealen.

«Tintenblau wogende Stunden» bietet eine Fülle von Geschichten und regt an zum Nachdenken über die fliessenden Ränder der Realität.

Textauszug

Oktopus-Variationen

Im vergangenen Winter war der Oktopus-Club der letzte Schrei in der Stadt. Wer etwas auf sich hielt, verbrachte das Wochenende da. Am Eingang erhielt man einen mysteriösen Cocktail, eine VR-Brille und einen Ganzkörperanzug, der mit Elektroden versehen war. Damit tauchte man in eine virtuelle Meereswelt ein. Das Erstaunlichste am Ganzen war, dass man sich plötzlich als Oktopus empfand.

  • Sabine Abt

Saroyan und ich

Also Hemingway. Wir lieben ihn beide. Meistens. Den alten Mann verstehen wir nicht. Wir ziehen dem Boot unsere Bar, das Spaces, vor.
«Von ihm stammt doch diese Kilimandscharo-Geschichte?»
«Ja, wurde verfilmt, mit Spencer Tracy und einer der Hepburns.»
«Ach? Nein, Sie irren, Schweizer.»
«Was, es sind doch immer Tracy und eine der Hepburns!»
Ich frage Eyrin und tatsächlich: Es waren Gregory Peck und Susan Hayward. Ich lag total falsch.
Saroyan hat den Riecher, wenn er wieder mal am Gewinnen ist.

  • Matthias Müller

Never change a winning team

Der Sieg, den unsere kleine Mannschaft, bestehend aus Notizbüchlein, Kugelschreiber und mir, anstrebt, wird nun mal im Kampf gegen den gesunden Menschenverstand errungen, der stets als haushoher Favorit die Arena betritt, am Ende aber sich eingestehen muss, dass er mit einem blauen Auge davongekommen ist, wenn er wenigstens einen Punkt mitnehmen kann.

  • Kurt Aebli

Die Frau neben Anna

Die Frau neben ihr schwieg noch immer und Anna blickte in die Ferne. Dann hörte sie Berta: Schau, Anna, Sonnenlicht flunkert auf dem Wasser. Doch die Wolke, die drüben aufzieht, türmt sich empor, während der Kalkstein da, so hell er ist, noch die Wärme des Tages bewahrt. Und dennoch weht mir der Vorbote der Nacht entgegen.
Es wird kühler, sagte Anna und sah die Frau neben ihr nicken.
Ja, wie wollte man widersprechen? Ein Mensch sieht das so, empfindet auf diese Weise, spricht mit seinen Bildern davon. Anna wusste, was die Frau neben ihr dazu sagte: Als Mensch bin ich gefangen in meinem Menschsein. Und das zum Schaden der Welt.

  • Ruth Erat

Das dritte Bein

Die große Knolle mit ihren zwei Armen und drei Beinen erschien ihm fast menschlich. Kleiner Kopf, Stummelarme, lange, leicht gekrümmte Beine. Eher Ginseng als Ingwer. Er brachte es nicht übers Herz, die Ingwer-Person mit dem Gemüsemesser anzugehen, sie scheibchenweise in die Teekanne zu schnetzeln, um wie gewohnt seinen Mandarin-Schwarztee zu würzen, sich einzuheizen.
Er glaubte gelesen zu haben, dass sich Ingwer leicht pflanzen und vermehren lasse. Schien die Knolle nicht schon auszutreiben? Im Keller fand er einen runden Keramik-Topf auf drei Beinen, mit Pflanzenrelief verziert, hellgrün glasiert. Asiatisch, vermutete er. Das schien ihm die passende Wohnstätte zu sein für seinen Ingwer.

  • Irène Bourquin

Eingerichtet

Es geschah wenige Tage vor dem Umzugstermin, morgens um halb elf: Die Wohnung, in die Lukas einziehen wollte, bezog ihn. Sein neues Schlafzimmer, das größer war als das alte, verkeilte sich samt Bett und Kleiderschrank in seinem Kopf, während die restlichen Zimmer mit ihrem ganzen Mobiliar in Richtung Kehle drängten. Am Gasherd wäre Lukas beinahe erstickt.

  • Jolanda Piniel

Mein gebildetes Kalb

Mein Kalb verdanke ich der Förderung für Hochbegabte. Wie es dazu kam, werde ich gleich berichten. Unter uns sprechen wir kaum darüber. Zumal das Kalb eigentlich eher wortkarg ist. Unser Gedankenaustausch erfolgt vorwiegend telepathisch. So etwa auf den entdeckungsfreudigen Spaziergängen, die wir unternehmen. Wir besuchen Sehenswürdigkeiten der Natur, aber auch Gedenkstätten der Vergangenheit. Bei unserem Ausflug zu einem eher unbekannten Pferdedenkmal wagten wir kürzlich einen Glockenzug am Tor des Landsitzes, auf welchem, vor 100 Jahren, Rilke sich auf die späteren Sonette an Orpheus einstimmte.

  • Thomas Heckendorn

Das Brautkleid

Sie war ins Geschäft eingetreten und hatte sofort das Eine gesehen, eine Stoffwolke von betörender Eleganz. Ich begleite dich, hatte das Gewebe geflüstert. Geknistert und geseufzt. Ich nehme dieses hier, hatte sie zur Verkäuferin gesagt und das Kleid vorsichtig, beinahe wie eine Trophäe, zur Kasse getragen.

  • Ruth Loosli

Der Dompteur

Der Name ist irreführend, denn dieser Dompteur bändigt keine wilden Tiere, sondern die Flüsse in seinem Hirn. Er ist ein Bändiger von Flüssen. Flüsse sind gefährlich, schwellen plötzlich an und werden gewalttätig. Der Dompteur kennt die Gefahr. Er darf keine Fehler machen, sonst ist es um ihn geschehen. Er will über die Flüsse herrschen, liebt sie, stürzt sich in die Flut, taucht auf den Grund, planscht wie ein Kind, das sich am Wasser freut.

  • Oskar Pfenninger

Eines sanglosen Morgens

Willkommen Amsel, Drossel, Fink und Star! Seht euch vor, nehmt euch vor dem Graureiher in Acht! Es seien ausdrücklich alle gewarnt: Die Graureiher, wie es sie einmal gab, sind vor einiger Zeit schon ausgestorben … ausgerottet worden, das trifft’s wohl eher. Was da stoisch auf den Feldern steht, unseren alten grauen Freunden zum Verwechseln ähnlich, das sind hochmoderne Überwachungs- und Kampfmaschinen. Wo ein falscher Grauer steht, sich in Gelassenheit und vermeintlich seinsgerechter Langsamkeit übt, fliegt bald kein Vogel mehr.

  • Markus Bundi

London 2

Und da war diese Leichtigkeit, die auch anhielt, als das Aeroplan in den Nebel hineinglitt. – Natürlich sind mir vom Leben im Wasser alle Formen des Schwebens vertraut, wenn wir Menschen in unseren Blasen uns auch nicht so gewandt bewegen können wie Sie, die privilegierteren Mitglieder unserer Gemeinschaft, denen das Element gehört, in dem wir zu Gast sind.

  • Gabrielle Alioth