Verwehtes Jahrhundert


Verwehtes Jahrhundert
Verwehtes Jahrhundert
Gedichte
136 Seiten
12 × 20.5 cm
August 2023
Reihe: Caracol Lyrik, Band 13
978-3-907296-27-1
  • 20 CHF
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Lieferbar

Jochen Kelters neuer Lyrikband ist ein Rückblick, von 1945 bis ins Heute, eine Bestandesaufnahme politischer und menschlicher Misere im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Sammlung umfasst 12 Zyklen mit je sieben Gedichten. Sie ist geprägt von einem Grundton der Trauer: grimmige Trauer im Politischen, stille Trauer im Privaten. Der Autor sieht der Gesellschaft, der Welt beim Entgleisen zu, sieht auch ökologisch ein «allmähliches Weltenende» kommen.
Das Rasen der Zeit quält den Beobachter: «wie schnell die Menschheit von einem / Krieg in den nächsten gestiegen ist / wir haben es längst schon vergessen»

Glücksmomente in der Schweiz sind selten: «hier eingezäunt ist der Frieden». Dem politisch engagierten Autor, der als Kind in Trümmern spielte, ist der Unterschied sehr bewusst zwischen «vom Krieg wissen» und «den Krieg erfahren». «Unsere Kriege» stehen täglich vor seiner Tür: Flüchtlinge (aus Bagdad, Kabul, Sarajevo), die als Postboten arbeiten. Die «globale Existenz» bedeutet auch: «irgendwo herrscht immer neuer Krieg / irgendwo ist stets eine Pandemie».

Zuflucht bietet nur die Poesie, sie ist «täglich Brot», «einzig Licht der Seele», «die Poesie ist die Waffe einer Zukunft / in der wir Brüder und Schwestern sein werden».

Zu den versöhnlicheren Texten gehören Naturbeobachtungen und Begegnungen mit «kleinen Leuten», etwa mit einem gelernten Schlosser, der Cicero gelesen hat und den Dichter in ein Gespräch über geschriebenes und gesprochenes Wort zieht, mit einem irischen Tramper oder einem pensionierten Teppichhändler in Paris. Auch «kleine» Begegnungen können Geschichte spiegeln.

Der Stil von Kelters neuen Gedichten ist oft prosanah, aber mit vielen Zeilensprüngen, Schachtelsätzen und ambivalenten Bezügen; er zwingt zum Nachlesen und Nachdenken. Aus der Erinnerung evoziert der Autor starke Bilder, die nach der Lektüre weiterwirken.

Textauszug

Wetterleuchten

Am schwarzen Nachthimmel
immer wieder das entfernte
Leuchten des zuckenden gelben
Lichts und dichte Vorhänge
schweren Regens undurchdringliche
Wände aus Wasser die strömen
und strömen unsichtbar rauschen
du bist noch immer nicht auf den
Grund deiner Seele gelangt
undurchschaubar fließendes
Selbst das dir zuraunt die Nacht
der Regen die Wasser sind nicht
von Dauer sie vergehen wir sind
noch lange nicht auf den Grund
unserer Geschichte gekommen

Gespräch mit einem knienden Denker

Moment ich kenne Sie doch
Sie sind doch – ich sitze auf einer
niedrigen Bank vor dem Lokal
der Mann in Monteurskleidung
beugt sich herab kniet mit einem
Bein auf dem Boden und fragt
Darf ich Sie etwas fragen?
Was ist der Unterschied zwischen
gesprochenem und geschriebenen
Wort? Ich bin gelernter Schlosser
habe aber doch Cicero gelesen dem
sind seine Worte schlecht bekommen
– für das geschriebene Wort braucht
man länger als für das gesprochene
bei Cicero ist das gesprochene Wort
oft das zuvor geschriebene
aber Gesprochenes Geschriebenes
sind heutzutage morgen bereits
Schnee von gestern – was ich so
lese sagt er wo mich umhöre nichts
als schwarzer Unsinn Gerüchte
Gehörtes von Dritten wir sollten
wieder anfangen über das was wir tun
wer wir sind mit gesprochenen
geschriebenen Worten zu sprechen
nicht auf Facebook und Twitter
und erhebt sich auf beide Beine

Dieses Buch wurde gefördert von

  • Kanton Thurgau, Kulturamt, Lotteriefonds
  • Gitta Herfort Stiftung
  • Dr. Heinrich Mezger-Stiftung