Wie ein Bisam läuft


Wie ein Bisam läuft
Wie ein Bisam läuft
Erzählung
Cover: Graphische Gestaltung von Ruth und Pablo Erat
96 Seiten
12 × 20.5 cm
August 2020
Reihe: Caracol Prosa, Band 2
978-3-907296-01-1
  • 20 CHF
  • 20 €
Lieferbar

Der unerklärlich faszinierende Geruch eines Mannes und Erinnerungen an die Kindheit als Jüngste in einer dysfunktionalen Familie – eine Frau begibt sich auf Spurensuche. Das hat überraschende Folgen für ihr Leben.
Zufällig bemerkt Wanda im Café einen älteren Mann, der sie zu beobachten scheint. Als er an ihrem Tisch vorbeigeht, atmet sie seinen Geruch ein. Viel später findet sie den Mann unerwartet in einem Park wieder. Es kommt zu einer schwierigen On-Off-Beziehung.
Bei seltenen Kontakten mit dem Vater, den die Mutter vor die Tür setzte, als Wanda vier Jahre alt war, sowie in Gesprächen mit den viel älteren Schwestern Agnes und Verena wird das Rätsel Mutter – eine gefeierte Pianistin – umkreist. Es bleibt ein Rätsel, auch beim langsamen Sterben der Mutter.
Knapp, in Andeutungen und doch mit viel Atmosphäre, erschreibt Erica Engeler einen Seelenraum, der sich über die Aussenwelt stülpt.

Textauszug

IRGENDWANN STELLTE ICH FEST, dass ich mir den Geruch des Mannes nicht mehr vergegenwärtigen konnte. Es hätte eine Erleichterung sein können, ein natürlicher Schlusspunkt. Doch umso heftiger lebte das Verlangen, ihm auf die Spur zu kommen, neu auf. In einer derart überschaubaren Stadt hätten sich unsere Wege doch längst kreuzen müssen, woraus zu schließen war, dass er seinen Wohnort gewechselt haben musste oder damals nur geschäftlich hier geweilt hatte. Die Erfolgschancen waren zunehmend unrealistisch, da sogar sein Geruch nicht mehr als konkrete Erinnerung abrufbar war, sondern nur noch als Verlust. […]

Ob schon zu dieser Zeit Mutters seltsames Vor-sich-hin-Murmeln neu in meiner Erinnerung aufgetaucht war, weiß ich nicht, aber ihre ständige Nervosität und das leicht heisere Timbre ihrer Stimme an gewissen Tagen brachte ich in späteren Grübeleien vermehrt damit in Verbindung.
Eine Affenmutter wird man aus mir nicht machen können, hörte ich sie noch einmal, in einer frühen Erinnerung, zu ihrer Schneiderin sagen, die sich, mit Nadeln im Mund, an ihrem Saum zu schaffen machte und mich dabei mit ihrem warmen Blick streifte, was beglückend war, sich aber auch wie Verrat anfühlte.
Unter Bisam stellte ich mir damals so etwas wie einen Büffel vor, riesig und zottig, mit großen gebogenen Hörnern und sturem Blick, der schnaubend neben Mama herlief und ihr auf geheimnisvolle Weise zugetan war.
Als ich es Jahre später genauer wissen wollte, machte ihn das Lexikon zu einem kleinen, aus Amerika importierten Nagetier […]

Rezensionen

Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol

[…] Erica Engeler, eine Autorin der leisen Töne, in ihrem Auftreten zurückhaltend und scheu, überrascht in ihrer Erzählung durch Direktheit, Witz, Schalk und einer Dramaturgie, die sich an inneren Bildern orientiert und alles andere als protokollieren will. […]
Wandas Leben verheddert sich. Nicht nur weil sich ihre Gegenwart in scheinbaren Zufälligkeiten verliert, sondern weil sich ihre Vergangenheit immer fester um sie windet, ihr den Atem und Orientierung raubt, sie einengt und lähmt. […]
«Wie ein Bisam läuft» ist aber alles andere als Selbstzerfleischung, Selbstreflexion. Erica Engeler spickt ihre Erzählung mit würzigen Dialogen, kurzen, bissigen Sätzen, die in ihrer Prägnanz zum Schmunzeln zwingen. Die Geschichte ist das eine, ihre Sprache das andere. Erica Engeler spielt mit Nuancen, kippt zwischen Vorder- und Hintergründen. So wie das Leben unerklärbar bleibt, so bleibt Wanda vieles unerklärbar. So wie Wanda sich verheddert, so verheddere auch ich mich zuweilen bei der Lektüre – aber mit grösstem Vergnügen. […]

  • Gallus Frei-Tomic
in literaturblatt.ch am 8. Dezember 2020 (Website)

Mutmassungen über die Mutter

[…] Tastend und sinnlich erzählt die 1949 in Argentinien geborene Erica Engeler von dieser Ablösung und Selbstfindung. Erinnerungen an die eigene Mutter sind eingeflossen. «Sie las sehr viel, schwärmte von Büchern. Dort, wo sie aufwuchs, gab es keine; sie brachte sie jeweils aus der Provinzhauptstadt mit und gab sie mir zum Lesen.» […]
[Die Autorin] ergründet das Innenleben einer Frau, die als Kind erlebt, wie der Vater sich davonstiehlt, die Mutter aber keinen Halt bietet. Sondern in ihrer Kunstwelt schwebt: Musik, Literatur, einer opernhaften Liaison. Die Leserin erfährt davon in Bruchstücken, Erinnerungsschleifen, in einer Sprache von schonungsloser Präzision, reich an Bildern: Dafür ist die Figur der Erzählerin geradezu hypersensibel. Wie die Autorin selbst. […]

  • Bettina Kugler
in St.Galler Tagblatt am 15. Oktober 2020 (PDF / Website)

Dieses Buch wurde gefördert von

  • Kanton St.Gallen, Amt für Kultur, Kulturförderung
  • Stadt St.Gallen, Kulturförderung