Die ältere Schwester der Großmutter hatte vier Kinder, darunter Zwillingstöchter, eine blond, die andere dunkel. Die Blonde heiratete einen Bauernsohn und zog auf den Hof. Die Dunkle war Künstlerin. Sie lebte in Paris, wo sie in einem alten Haus – Klo eine Treppe höher, auf dem Flur – ihr Atelier hatte. Auf ihren Bildern leuchteten, wogten, wanden sich Farben und Formen, die an Meeresfauna erinnerten, an Muscheln, Korallen, geheimnisvolle Wasserwesen. Das Tauchen habe sie dazu inspiriert, erklärte sie. Diesen Satz gehört zu haben, waren ihre Besucherinnen, die Cousine aus Zürich und deren Tochter, sich sicher. Die Mutter erzählte es auch ihrem kunstaffinen Bruder, in dessen Häuschen in der Vorstadt sie wohnten. Dort verkehrten viele befreundete Künstler – einer davon, ein Maler, der später berühmt werden sollte, warf sich im Scherz mit einer Rose in der Hand vor der halbwüchsigen Tochter auf die Knie. Das Mädchen war geniert, zumal schon der Familiencoiffeur in Zürich, ein bekannter Meister seines Fachs und Freizeitmaler, sie hatte porträtieren wollen.
Die Malerin aber wollte später nichts mehr wissen von der angeblichen Inspiration aus dem Meer. – Anlässlich der Vernissage ihrer Ausstellung in der städtischen Galerie zum Strauhof erschien auch der Zürcher Stadtpräsident, was der Familie Eindruck machte. Die Künstlerin war aus dem Bürgertum ausgeschert und noch dazu blutjung Mutter geworden; den Vater des Kindes verschwieg sie. Der Paradiesvogel hatte es nun doch zu öffentlicher Anerkennung gebracht. In deren Abglanz sonnte sich an diesem Abend auch die Familie.
Aber die Malerin schlug in der Mitte ihres Lebens einen anderen Weg ein: Sie ging nach Indien und schloss sich in Kerala einer spirituellen Gemeinschaft an. Deren Führer sei kein Guru, sondern ein Philosoph, betonte sie. Auf ihren indischen Aquatinten wucherte dunkel der Urwald, glitten Kähne über Flüsse, saßen bunte Papageien im Geäst.
Als die indisch gewordene Künstlerin ihre Schweizer Familie besuchte, stellte sich ein ungewohntes Problem: Sie war jetzt überzeugte Vegetarierin – eine exotische Herausforderung für die bürgerliche Verwandtschaft, damals, in den 70er Jahren. Wie konnte man einen seltenen Gast würdig bewirten ohne Fleisch? […]