Fliehkraft


Sein Streckenrekord ist bis heute ungebrochen. Trotzdem stand er nie als Erster auf dem Treppchen. Gewonnen hatte er die Herzen der Menschen. Heute erinnert, ausgestellt in einer der Glasvitrinen im neu errichteten Heimatmuseum, eine kunstvoll geformte Plastik auf einer rotierenden Scheibe, die aus dem originalen Straßenbelag von damals geformt ist, an die Ereignisse jenes Tages.

Seit Wochen schon hängen die Plakate überall in der Umgebung: ausgestellt in den Schaufenstern der Geschäfte, befestigt an Bäumen und Litfasssäulen. Niemand, der nicht mit Spannung dem Tag des Rennens entgegenfiebert.
Josef, der zweitälteste Sohn des Oberbergbauern, alle nennen ihn Sepp, ist auf dem Weg zum Rathaus, um seine Startnummer zu holen.
Die Luft ist drückend – Gewitterluft. Er schaut zum Berggipfel hinauf, wo in wenigen Stunden der Sieger des alljährlichen Motorrad-Bergrennens geehrt wird. Heuer werde ich es schaffen, denkt er siegesgewiss, als er einen grell zuckenden Blitz in die Spitze einer der hohen Tannen einschlagen sieht. Schlagartig gerät sie in Brand, aber genauso plötzlich erlischt das Feuer wieder, als ein kurz darauf einsetzender Regenschauer niederprasselt.
Sepp muss laufen, um nicht völlig durchnässt zu werden. Im Rathaus, vor dem Tisch der Rennkommission, hat sich eine Warteschlange gebildet. Sepp stellt sich hinten an. Als er dann die für ihn ausgestellte Starterlaubnis mit der Startnummer in Händen hält, ist er sich ganz sicher: Am Schluss wird auch die Siegerurkunde auf meinen Namen ausgestellt sein. Sepp geht mit einem Lächeln wieder hinaus auf die Straße. Der Regen hat aufgehört.

Aufgrund des heftigen Unwetters müssen die beiden Streckenposten noch einmal auf die Bergstraße. Oben, in der letzten Kurve vor dem Ziel, hat der ungewöhnlich starke Gewitterregen die Fahrbahn am äußeren Rand unterspült und der Straßendecke breite Risse zugefügt. Ein Warnschild soll die Rennfahrer auf die Gefahr hinweisen.
„So, das reicht, das sehen die alle“, sagt der Ältere, als sie das Schild ordnungsgemäß aufgestellt haben.
„Meinst du nicht, wir sollten noch ein zweites anbringen, weiter vor der Kurve?“, fragt der Jüngere besorgt.
„Da passiert nichts, glaub mir. Die Asphaltdecke ist nur am Rand abgesackt. So weit außen fährt keiner durch die Kurve, die fahren alle schön innen, ist kürzer“, versichert ihm sein Kollege mit einem Grinsen. Der Jüngere will noch etwas sagen, doch er schweigt.

Die Hauptstraße im Dorf ist von Zuschauern flankiert. Das Rennen ist in vollem Gang. Gleich kommt Sepp an den Start. Er ist beliebt im Dorf, jeder kennt ihn und für die meisten ist er auch der Favorit. Dementsprechend bricht tosender Jubel aus, als die 7, seine Nummer, aufgerufen wird. Langsam rollt die rote MV Augusta, Baujahr 1954, zur Startlinie. Wenige Millimeter vor der weißen Markierung stoppt das schnittige Motorrad. Sepp richtet sich auf und streckt seinen Oberkörper. Gelassen justiert er seine Brille und bringt sie in optimale Position, bevor er sich hinunterbeugt und seine Hände die gummierten Lenkergriffe fest umklammern. Der Viertakter tuckert gleichmäßig. Sepp wartet. Der Rennleiter hebt die Pistole – der Startschuss. Sepp ist im Rennen.
Er beschleunigt, wird schneller und schneller. Am Ende der Geraden legt Sepp die Maschine sanft in die erste Linkskurve, in deren Verlauf die Straße spürbar an Steigungsprozenten zunimmt. Der Berg verlangt mehr Motorschub. Sepp dreht gefühlvoll am Gasgriff; gefährlich nah geht er ans Limit. Die Menschen brüllen euphorisch und treiben ihn weiter an. Sepp hört das Toben nicht, er fährt wie in einem Vakuum.
Die halbe Renndistanz ist bereits absolviert, als er den Fahrer, der eine Minute vor ihm gestartet ist, sehen kann. Am Streckenrand wird ihm in weißen Ziffern die Zwischenzeit angezeigt, daneben eine gelbe 2 – seine momentane Position im Rennen. Noch ist er nicht da, wo er hin will, noch ist er nicht Erster. All das jagt blitzschnell durch seinen Kopf, bis die nächste Doppelkurve wieder seine volle Konzentration verlangt und ihn zum Drosseln der Geschwindigkeit zwingt. Rechts – links, dann treibt er seine Maschine erneut zur Höchstleistung. Die Distanz zum Vorausfahrenden verringert sich weiter. Der könnte ihm noch gefährlich werden, wenn er ihn überholen muss, denkt Sepp. Das geht jetzt nur noch in den Innenseiten der Kurven. Die Geraden hier im oberen Abschnitt der Bergstrecke sind für ein Überholmanöver zu kurz.

Sepp rast heran und ist jetzt unmittelbar hinter dem Vorausfahrenden. Schon naht die letzte Kurve. Völlig unerwartet bremst der Fahrer vor ihm stark ab. Er hat das Warnschild im letzten Moment bemerkt – Sepp nicht. Der Eingeholte zieht nach innen. Genau dort will auch Sepp durch. Er muss nach außen ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Weil er nun aber den längeren Weg hat, droht ihm ein Zeitverlust, den er sich nicht leisten darf und nur mit noch höherer Geschwindigkeit ausgleichen kann, sonst ist das Rennen für ihn verloren. Aber Sepp unterschätzt die Kurve, er ist viel zu schnell. Die Fliehkraft drückt ihn immer weiter nach außen. Näher und näher kommt er dem Straßenrand und der brüchigen Asphaltdecke. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Er spürt noch, wie der Straßenbelag unter ihm nachgibt und er den Kontakt zu seinem Motorrad verliert. Sein Körper hebt förmlich ab. Wie schwerelos fliegt er auf den steilen Abhang zu – stürzt hinunter. Eine der mächtigen, alten Tannen stoppt seinen Fall. Ein dumpfer Schmerz durchströmt ihn und er sieht, wie ihm sein Motorrad auf dem nassen, glitschigen Waldboden ungebremst entgegen rutscht. Der Baum bildet eine stabile, natürliche Barriere. Ohne sonderlich Schaden zu nehmen, hält er die Wucht des Aufpralls aus. Nur seine harte, graue Rinde färbt sich langsam blutrot.

Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle wollen Abschied nehmen. Das rot gerahmte Foto zeigt Sepp auf seinem geliebten Motorrad. Ausgestellt, inmitten prachtvoller Blumengestecke, steht es auf einem Podest vor dem Altar. Die Menschen schauen zu ihm hoch, wie zu einem Sieger.

© Reinhard Albers

Der Text ist aus dem Band Eriks Reise, Caracol Verlag, Warth 2020.

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