Eine Karottenlänge


Er sass auf einem Gartenstuhl im Halbschatten und nagte an seiner täglichen Karotte. Das einsame Homeoffice, die fehlende Kaffeepause mit den Kollegen bedrückten sein Gemüt, trübten seine Augen. Fast beneidete er jene anderen Homeworker, die bei der Arbeit am Stubentisch von quengelnden Kleinkindern umzingelt waren, während die Frau, ebenfalls im Homeoffice, sich im Schlafzimmer verschanzte – oder die Frauen, die homeworkend Kinder homeschoolten, während der Mann sich auf dem Balkon weggesperrt hatte, mit Kaffeetasse und Laptop.

Er betrachtete die vielfarbig blühenden Primeln im Garten – ein Lichtblick! – und träumte sich in die Zukunft. Endlich hatte der Bundesrat erste Lockerungen des Lockdowns in Aussicht gestellt, etwas halbherzig und vage zwar, aber in der Einsicht, «dass man eine Perspektive brauche». Die Wirtschaft ächzte. Die ihr zugeneigten Parteien drängten. Ein Kompromiss war unvermeidlich. Allerdings machte der Bundesrat die ersehnten Lockerungen nicht nur von statistischen Zahlen des Gesundheitswesens abhängig, sondern auch vom Verhalten des Volkes während der bevorstehenden Ostertage. Seeufer, Promenaden, Plätze und Aussichtstürme waren vorsorglich gesperrt. Motorradfahrern und Ferienhausbesitzern hatte man ins Gewissen geredet. Selbstverantwortung sollte allmählich die Freiheit zurückbringen.

In einer hoffnungsfrohen Zukunft würde auch er, eine Risikoperson, es wohl wagen, seine Karotten wieder selbst einzukaufen. Die Karotten für die tägliche Arbeitspause in Karottenlänge, das Brot, die Milch, die Nudeln. Er schnupperte. Der Duft von Tomatensauce lag in der Luft. Spaghetti bolognese: das fast schon offizielle Krisenmenu. Er würde also im Laden stehen, mit Maske vielleicht. Der Entscheid über die allgemeine Maskenpflicht wurde von Tag zu Tag vertagt. Er würde die farbenfrohe Gemüseabteilung ansteuern, selig zwischen Bananen, Peperoni, Karotten verharren. Berge von Karotten. Die Karotte war laut Statistik das Lieblingsgemüse der Schweizer Volks. Berge haben Gipfel, dachte er. Niemand würde die exponierte oberste Karotte mit spitzen Fingern fassen wollen. Er würde also tiefer in den Berg greifen, nach einer unverdächtigen, unbelasteten, unverseuchten Karotte graben. Während dieser Aktion käme ihm aber in den Sinn, dass wohl alle Karottenkäufer so dächten und handelten, dass daher der Berg ständig umgegraben würde, dass die Karotten tief im Innern des Gebirges, ja sogar die untersten, möglicherweise noch vor kurzem obenauf gelegen hätten.

Er seufzte. Seine Zukunftsvision verblasste. Die Latten des Gartenstuhls aus dem Inventar der Grosseltern, mit abgeblätterter Farbe, drückten. Das Dudeln des Telefons rief ihn zurück in die Arbeitswelt der Gegenwart. Wohl der Chef, auch er im Homeoffice, ungeduldig den Lock-on erwartend, die Auferstehung des Alltags. Ob sie dann wohl alle im Büro mit Maske – Kaffeepause mit Maske –

Er liess es dudeln und hielt sich an seiner Karotte fest.

© Irène Bourquin

Der Text ist hier erstmals publiziert.

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