In der U-Bahn in Tokyo 1968


Die U-Bahn hielt an, die Türen gingen auf, wenige Personen stiegen aus, viele aber wollten einsteigen. Der Wagen war zum Bersten voll, diejenigen, die stehen mussten, standen dicht gedrängt. Es war am Vormittag, schwül, an der Decke drehten sich Ventilatoren. Die Passagiere fuhren zur Arbeit, die Männer in sauberen Anzügen, weissen Hemden und mit unauffälligen Krawatten, die Frauen in Hosen, Hosenanzügen.
Ich war einer der stehenden Passagiere und hätte nicht umfallen können, das war bei dieser Dichte unmöglich. Unangenehm waren die nassen Schirme mit festen Griffen. Auch die Taschen und Mappen machten sich bemerkbar. Die Masse der Leiber war biegsam, sie schwang mit jeder Bewegung des Zuges mit. Es roch nach den Pomaden von Männerhaaren, aber nicht nach Schweiss. Die Japaner riechen viel weniger als wir aus dem Westen.
Frontal an mich gepresst stand eine ältere Dame. Ihr Scheitel befand sich unter meinem Kinn. Sie wandte sich plötzlich an mich und meinte auf Englisch: «Entschuldigen Sie, aber so ist es bei uns in Tokyo. Übrigens befinden wir uns jetzt gerade unter dem Kaiserpalast. Wir fahren unter dem Palast durch. Ob der Tenno weiss, wie es da unten zugeht? Wohl kaum, denn er fährt nie mit der U-Bahn.» Beim nächsten Halt stieg die Dame aus. Zum Abschied sagte sie: «Man sollte ein Floh sein.» Ein heiteres «Sayonara» war ihr letztes Wort.

© Oskar Pfenninger

Der Text ist aus dem Sammelband Anatomie eines Dreiecks, Caracol Verlag, Warth 2022.

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